Omikron ist nicht Omega

Am 27. Januar 2020 wurde in Deutschland der erste Fall der neuartigen Virus-Erkrankung COVID-19 bekannt. Am 22. März 2020 traten die ersten umfassenden landesweiten Einschränkungen in Deutschland in Kraft. Heute, über zwei Jahre und fast 130.000 Todesfälle in Deutschland später, wurde die Pandemie praktisch für beendet erklärt, während die Infektionszahlen auf einem Rekordhoch sind. 

Der Traum, COVID-19 auszurotten, ist schon lange geplatzt, das Gleiche gilt für die Hoffnung auf Herdenimmunität und dass damit die Krankheit einfach verschwinden würde. Viele Erkenntnisse später ist die Aussicht darauf, dass wir mit dem Virus langfristig leben lernen – Endemie genannt – der Weg Richtung Ende der Pandemie. Aber sind wir schon so weit?

Milder ≠ Mild

Derzeit dominiert die Omikron-Variante, bei der eine Infektion zu geringeren Risiken im Vergleich zur Delta-Variante führt [CO4]. So sind die Risiken für Hospitalisierung, Intensivstationsaufenthalt oder Todesfolge um 44–69 % reduziert für Infizierte über 20 Jahre. Omikron ist jedoch deutlich ansteckender als jede andere Variante [CO5] und führt zu massenhaften Ausbrüchen, wo immer sie auftritt. Das Problem ist hierbei, dass, auch wenn für die Einzelperson die Risiken geringer ausfallen, die große Menge an Infektionen innerhalb eines kurzen Zeitraums zu einem Risiko für unsere Gesellschaft führt. Bei Omikron ist auch die Wahrscheinlichkeit einer Reinfektion nach vorher durchgemachter Infektion mit anderen Varianten deutlich höher [CO6]. 

Anfangs kursierte hauptsächlich die Variante Omikron BA.1. Derzeit verbreitet sich aber bereits die zweite Version, Omikron BA.2, welche eine noch höhere Infektiösität aufweist. Doch wer geimpft ist, schützt auch andere. Denn obwohl die Impfung eine Infektion zwar nicht verhindert, reduziert sie doch erheblich die Rate der Übertragung von einem Geimpften auf eine andere Person, was um ein vielfaches seltener vorkommt als bei jemandem ohne Impfung [CO5], [CO7].

Häufiger als bei anderen Virusinfektionen bleiben bei vielen Corona-Infizierten chronische Symptome, genannt Long COVID, bestehen. Symptome wie Müdigkeit, Kurzatmigkeit und Kopfschmerzen treten bei 10–35 % der Infizierten innerhalb von sechs Monaten nach einem milden Verlauf auf [LC1]. Dies ist eine schwerwiegende, langfristige Belastung für die Betroffenen und ihre Mitmenschen sowie Gesundheitssystem und Arbeitsmarkt. Auch hier hat sich die Impfung als hilfreich erwiesen, um Symptome [LC2] und die allgemeinen Risiken von Long COVID [LC3] zu reduzieren.

Blick über den tellerrand

Wie auch bei vorangegangenen Wellen lohnt sich der Blick auf unsere europäischen Nachbarn:  Wo auch immer Omikron auftrat, gingen die Infektionszahlen zuverlässig durch die Decke, sodass man von der sogenannten „Omikronwand“ sprach. Inzidenzen im Tausender-Bereich wurden zur Normalität. Es infizierten sich jede Woche also mehrere Prozent der Gesamtbevölkerung. Je höher die Impf- und Boosterquote, vor allem in der vulnerablen, älteren Bevölkerung, desto geringer fiel die Belastung auf den Intensivstationen aus und die Infektionssterblichkeit ging entscheidend zurück [CO4]. Trotz massiv steigender Infektionszahlen stagnieren seither vielerorts Todesfälle und Intensivbelegung vielerorts auf mittlerem bis hohem Niveau, während die allgemeine Hospitalisierungsrate deutlich anstieg [OWID]. Ein Erfolg, welcher hauptsächlich auf die hohe Impfwirkung zurückzuführen ist [EU1]. Jedoch ist auch vielerorts zu beobachten, dass die Hospitalisierung von Kindern und Jugendlichen deutlich zunahm, größtenteils bei jenen ohne Impfschutz [EU3].

Mit dieser Ausgangslage haben sich mittlerweile einige Länder dazu entschieden, Corona-Maßnahmen teilweise ganz fallen zu lassen, einschließlich der Maskenpflicht [EU4]. Die Pandemie wurde für beendet erklärt [EU5], zum zweiten Mal [EU6].In der Folge stiegen bspw. in Dänemark und Schweden unter anderem die Todesfallzahlen deutlich an. Dass in Dänemark zwar die Fallzahlen ebenso anstiegen, in Schweden jedoch scheinbar nicht, lag schlicht daran, dass Schweden auch die Testkampagne weitestgehend einstellte [OWID]. Wenig überraschend starben die Menschen dennoch in Folge einer Corona-Infektion. In Schweden doppelt, in Dänemark sogar 6-mal so häufig wie in Deutschland im gleichen Zeitraum  [OWID]. Durch hohe Inzidenzen finden sich jedoch auch mehr Todesfälle, bei denen eine Corona-Infektion nachgewiesen wurde, ohne dass sie die eigentliche Todesursache war. Daher steigt in vielen Ländern durch Omikron das Verhältnis von Todesfällen mit Corona gegenüber jenen durch Corona [EU8].

Und bei uns?

Wie lange angekündigt, hat die Bundesregierung für den 20.03.2022 die Pandemie auch in Deutschland für nahezu beendet erklärt. Dies bedeutet eine weitestgehende Zurücknahme der meisten Corona-Beschränkungen, einschließlich der Maskenpflicht an vielen Orten (z.B. Innenräumen) und eine Übertragung der Verantwortung vom Bund auf die Länder [D1]. Dieser Schritt steht in Teilen im Konflikt mit den vom Corona-Expertenrat formulierten Empfehlungen [ER1], ganz besonders in Bezug auf die Maskenpflicht, die vom Expertenrat auch in Innenräumen weiterhin empfohlen wurde. So erntete das neue Infektionsschutzgesetz schon im Vorfeld heftige Kritik [D2].

Derzeit liegen noch immer weit über 2000 Corona-Patienten auf den Intensivstationen und es werden täglich weiterhin über 200 Todesfälle verzeichnet. Die Zahlen stagnieren seit Wochen. Bis zu zwei Drittel davon ließen sich bei aktueller Infektionslage durch ein Schließen der Impflücke vermeiden [RKI]. Weiterhin ist der Betrieb in fast 70 % der Intensivstationen bundesweit einschränkt oder teilweise eingeschränkt und damit fern von Normalität [DIVI]. Es ist wissenschaftlicher Konsens, dass das beste Mittel zum Beenden der Pandemie das Erhöhen der Impfquote ist. Je größer die Impflücke, desto länger müssten freiheitseinschränkende Maßnahmen aufrechterhalten werden – außer die Politik entscheidet, das einfach zu ignorieren und die Kosten in Form von Menschenleben inkaufzunehmen. 

Wie könnte es weiter gehen?

Der „Freedom Day“ – Populismus ohne Weitblick

Mit der Aufhebung der Corona-Maßnahmen dürften sowohl die Infektionen als auch Hospitalisierungen und Todesfälle wieder ansteigen. In den darauffolgenden Wochen ist dann gemäß der bekannten leichten Saisonalität wieder ein Rückgang der Corona-Zahlen zu erwarten. Nicht wegen, sondern trotz der Lockerungen. Manche Lockerungen, wie ein Aufheben von 2G oder weitestgehender Kontaktbeschränkungen, sind in dieser Phase der Pandemie grundsätzlich vertretbar. Jedoch sollten diese unter gebührender Vorsicht eingeführt werden, damit wir nicht wieder dastehen wie im Herbst 2021. Wir fordern die Maskenpflicht in Innenräumen nach Empfehlung des Expertenrats beizubehalten, um Infektionen zu reduzieren und vulnerable Gruppen zu schützen. Um Infektionsherde zu vermeiden, sollten auch weiterhin, bspw. bei Großveranstaltungen, Tests und/oder Impfnachweis vorgeschrieben werden können.

Impfpflicht oder nicht Impfpflicht – das ist hier die Frage

Die Impfpflicht-Debatte in Deutschland dauert zwar noch an (HWO), doch Aufgrund des scheinbar seichten Verlaufes der Omikron-Welle und einer augenscheinlich stabilen Situation auf den Intensivstationen, werden Rufe nach einer Abkehr von der Impfpflicht immer lauter. Im Hinblick auf den kommenden Herbst und Winter und mit dem Wissen, dass das Virus weiterhin mutieren wird und gegebenenfalls Varianten hervorbringen kann, welche zum Beispiel die Infektiosität der Omikron Variante, mit der Tendenz der Delta-Variante schwere Verläufe zu verursachen, kombinieren könnten (HW3), halten wir eine pauschale Ablehnung der Impfpflicht für einen Fehler. Eine altersabhängige Impfpflicht, wie sie in Griechenland (ab 60 Jahren) [HW1] und Italien (ab 50 Jahren) [HW2] zu einem deutlichen Anstieg der Impfquote in der entsprechenden Altersklasse geführt hat, wäre jedoch ein Kompromiss mit maximaler Wirkung auf Hospitalisierung und Todesfallzahlen und damit eine klare Entlastung des Gesundheitssystems.Auch wenn eine Impfpflicht letztlich nicht kommen sollte, muss weiterhin darauf hingewirkt werden, dass sich so viele Menschen wie möglich impfen lassen, auch nach bereits durchgemachter Infektion. Den besten und beständigsten Schutz gegen Corona stellt weiterhin die Impfung dar.

Welle Omega?

Eine erneute Corona-Welle im Herbst steht weiterhin zu befürchten, solange keine ausreichende Immunisierung der Bevölkerung erfolgt ist. Die Folge ist eine beständig wiederkehrende Belastung unseres Gesundheits- und Sozialsystems. Als wichtigste langfristige Maßnahme müssen wir jedoch unser Gesundheitssystem nachhaltig stärken. Bereits vor der Corona-Krise war die Lage angespannt. Die zwei Jahre der Dauerbelastung haben es weiter zermürbt. Wir müssen sehr umfassend in die Gesundheitsinfrastruktur investieren, Pflegeberufe finanziell stärken und ihre Attraktivität erhöhen. Hinzu sollte eine Teilrücknahme der Privatisierung von Krankenhäusern angegangen sowie eine allgemeine solidarische Bürgerversicherung umgesetzt werden. Reformen, die leider Jahre zur Umsetzung benötigen und daher frühzeitig angegangen werden müssen, um uns für die kommenden Jahre und Jahrzehnte zu wappnen.

Lies hierzu unser Positionspapier Gesundheit & Medizin und Wahlprogramm Pflege. Omikron wird nicht die letzte Corona-Variante sein, welche unseren Alltag bestimmt. Omikron ist nicht Omega.


Unsere Quellen:

[CO4] Nyberg, T., Ferguson, N. M., Nash, S. G., Webster, H. H., Flaxman, S., Andrews, N., … & Thelwall, S. (2022). Comparative Analysis of the Risks of Hospitalisation and Death Associated with SARS-CoV-2 Omicron (B. 1.1. 529) and Delta (B. 1.617. 2) Variants in England., https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4025932, abgerufen am 19.03.2022

[CO5] https://www.nature.com/articles/d41586-022-00632-3, abgerufen am 19.03.2022

[CO6] Pulliam, J. R., van Schalkwyk, C., Govender, N., von Gottberg, A., Cohen, C., Groome, M. J., … & Moultrie, H. (2021). Increased risk of SARS-CoV-2 reinfection associated with emergence of the Omicron variant in South Africa. MedRxiv., https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.11.11.21266068v2, abgerufen am

[CO7] Lyngse, F. P., Kirkeby, C. T., Denwood, M., Christiansen, L. E., Mølbak, K., Møller, C. H., … & Mortensen, L. H. (2022). Transmission of sars-cov-2 omicron voc subvariants ba. 1 and ba. 2: Evidence from danish households. MedRxiv., https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2022.01.28.22270044v1, abgerufen am 19.03.2022

[CO8] https://ukhsa.blog.gov.uk/2022/02/10/how-well-do-vaccines-protect-against-omicron-what-the-data-shows/, abgerufen am 19.03.2022

[LC1] van Kessel, S. A., Olde Hartman, T. C., Lucassen, P. L., & van Jaarsveld, C. H. (2022). Post-acute and long-COVID-19 symptoms in patients with mild diseases: a systematic review. Family practice39(1), 159-167. https://academic.oup.com/fampra/article/39/1/159/6322429, abgerufen am 19.03.2022

[LC2] Taquet, Maxime, Quentin Dercon, and Paul J. Harrison. „Six-month sequelae of post-vaccination SARS-CoV-2 infection: a retrospective cohort study of 10,024 breakthrough infections.“ medRxiv (2021)., https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.10.26.21265508v3, abgerufen am 19.03.2022

[LC3] Ayoubkhani, D., Bosworth, M. L., King, S., Pouwels, K. B., Glickman, M., Nafilyan, V., … & Walker, A. S. (2022). Risk of Long Covid in people infected with SARS-CoV-2 after two doses of a COVID-19 vaccine: community-based, matched cohort study. medRxivhttps://www.medrxiv.org/content/10.1101/2022.02.23.22271388v1.full.pdf, abgerufen am 19.03.2022

[OWID] https://ourworldindata.org/covid-cases, abgerufen am 19.03.2022

[EU1] https://newseu.cgtn.com/news/2022-02-02/Managing-Omicron-How-Portugal-learnt-to-ride-the-latest-COVID-19-wave-17iQtkLg3oQ/index.html, abgerufen am 19.03.2022

[EU3] https://edition.cnn.com/2022/02/15/health/covid-hospitalizations-children-unvaccinated/index.html, abgerufen am 19.03.2022

[EU4] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/lockerungen-corona-europa-101.html, abgerufen am 19.03.2022

[EU5] https://www.merkur.de/welt/corona-pandemie-freedomday-daenemark-taegliche-todesfaelle-steigen-news-zr-91404577.html, abgerufen am 19.03.2022

[EU6] https://www.welt.de/politik/ausland/plus234101760/Pandemie-beendet-Schweden-hebt-Corona-Massnahmen-auf.html, abgerufen am 19.03.2022

[EU8] https://www.spiegel.de/wissenschaft/covid-19-todeszahlen-mit-omikron-gestorben-oder-wegen-a-b79ae99b-e2bf-4364-a1d8-745cc7573ec1, abgerufen am 19.03.2022

[D1] https://www.tagesschau.de/inland/infektionsschutzgesetz-bundestag-corona-101.html, abgerufen am 19.03.2022

[D2] https://www.tagesschau.de/inland/corona-inzidenz-123.html, abgerufen am 19.03.2022

[ER1] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/corona-expertenrat-nennt-bedingungen-fuer-lockerungen-17803119.html, abgerufen am 19.03.2021

[RKI] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html, abgerufen am 19.03.2022

[DIVI] https://www.intensivregister.de/#/aktuelle-lage/zeitreihen, abgerufen am 19.03.2022

[HW0] https://www.tagesschau.de/inland/impfpflicht-debatte-bundestag-101.html, abgerufen am 19.03.2022

[HW1] https://www.rnd.de/politik/griechenland-corona-impfpflicht-fuer-ueber-60-jaehrige-in-kraft-35O64BDQ6SH5AK4XUDNYUJNIJ4.html, abgerufen am 19.03.2022

[HW2] https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-02/teil-impfpflicht-italien-arbeit-corona, abgerufen am 19.03.2022

[HW3] https://www.tagesspiegel.de/wissen/kombination-aus-delta-und-omikron-was-man-ueber-die-neue-mischvariante-deltakron-wissen-sollte/28168172.html, abgerufen am 19.03.2022

[H1] https://www.pdh.eu/2020/04/13/positionspapier-gesundheitspolitik/, abgerufen am 19.03.2022

[H2] https://www.pdh.eu/2022/03/06/vision-gesundheit-medizin/, abgerufen am 19.03.2022